Ein kleiner Denkanstoß

Normaler Weise berichte ich in diesem Blog über meinen Freiwilligendienst und nutze diese Plattform, um darüber zu schreiben, wie unglaublich schön Kirgistan ist. Ich teile meine eigenen subjektiven Erfahrungen – nicht mehr und nicht weniger. Ich glaube fest daran, dass jede Kultur weder besser noch schlechter ist als andere. Manchmal ist sie sehr anders, manchmal ähnlich und manchmal fühlt man sich wohl in dieser Andersheit oder Ähnlichkeit und manchmal ist sie einem zu fremd oder eben zu vertraut.

Meiner Erfahrung nach erlernt und erfährt man eine neue Kultur, indem man das, was man sieht, hört, schmeckt, riecht und fühlt vergleicht, mit dem, was man bis dahin kennt. Selbst wenn man versucht, ausschließlich zu erfahren und beobachten, gelingt es nicht immer, Wertung und unbewusstes Parallelen ziehen zu vermeiden.

So habe ich in jeder Kultur, in der ich bisher leben durfte, klare Rollenbilder erfahren. Die Gesellschaft im mittleren Westen der USA scheint genauso ungeschriebene Regeln und Ideen zu haben, was es heißt eine Frau, ein Mädchen, ein Junge, ein Mann, homosexuell, heterosexuell, transsexuell, asexuell, gläubig oder nicht usw. zu sein, wie die kirgisische Gesellschaft oder die deutsche. Abhängig von jedem Individuum in seiner jeweiligen Gesellschaft, scheinen diese Regeln und Ideen klar oder schwammig definiert, flexibel oder unflexibel, brechbar oder als ständiger Richtwert omnipräsent zu sein. Meiner Erfahrung nach, sind sie manchmal wichtig, manchmal nicht, aber da, im Hintergrund, sind sie immer.

Vor ein paar Wochen habe ich eine Gruppe Kinder im Kindergartenalter bei einem Spiel beobachtet. Die Erzieherin ließ die Mädchen gegen die Jungen auf „Hüpfpferden“ in einem Wettrennen gegeneinander antreten. „Für die Mädchen natürlich das pinke, für die Jungen das blaue Pferd“, wurden die Spielzeuge zugeteilt. Dann begann ein engagiertes Wettrennen, das nicht ohne kleinere Unfälle blieb. Als einer der kleinen Jungen hinfiel, riefen die Zuschauer ihm zu: „Wein nicht! Du bist ein Junge, raff dich auf, mach weiter!“. Als kurze Zeit später eines der Mädchen Bekanntschaft mit dem Boden machte, wurde es mit einer Umarmung und tröstenden Worten aus dem Spiel genommen.

Meine erste Reaktion auf diese Szene war Empörung. Nach kurzem Nachdenken realisierte ich, dass diese Situation genauso gut in Deutschland, genauso gut in den USA hätte stattfinden können und so oder ähnlich wohl in jedem Land dieser Welt immer wieder stattfindet. Ich kann an meine eigene Kindergartenzeit zurückdenken. Ich denke an meine Schwester, die dafür kritisiert wurde, dass sie lieber auf Bäume kletterte als mit Puppen spielte. Ich erinnere mich daran, wie mein Bruder – oft weiser als ich – sich echauffierte, warum sich nur die Mädchen hübsch machen dürften mit Kleider und Haarreifen. Um der Gerechtigkeit Willen trug er als Reaktion auf diese Realisierung am nächsten Tag eines meiner Kleider in den Kindergarten. An der amerikanischen High-School, die ich besuchte spielten nur die Jungen Football, nur die Mädchen Volley-Ball und während in meinem Physikkurs nur 2 Mädchen saßen, belegten kaum Jungen den Kochkurs.

Ich teile diese Beobachtungen, weil ich oft nach den Rollenbildern von Mann und Frau hier in Kirgistan gefragt werde. Gäbe es nicht ein klares Bild der Frau, deren Aufgabe es sei den Tee zu kochen und den Mann zu bedienen? Ob ich mich als junge europäische Frau in Kirgistan denn wohl fühle? Ob ich ein Problem mit den kulturellen und gesellschaftlichen Einstellungen hätte?

Die Antwort ist „Ja.“. Ja, in der kirgisischen Gesellschaft als abstraktes Konstrukt, so wie ich sie erleben durfte, gibt es relativ klar definierte Rollenbilder, die zu mindestens einem Teil der Bevölkerung als Vorbild dienen, einem anderen Teil nicht, genauso wie in Deutschland auch, wenn auch das Bild an sich vielleicht ein etwas anderes ist. Ja, ich fühle mich wohl hier, unabhängig von allen gesellschaftlichen Gedanken-Konstrukten. Und ja, ich denke, dass die kulturellen und gesellschaftlichen Einstellungen problematisch sind – allerdings nicht spezifisch die, der kirgisischen Gesellschaft, sondern die weltweit.

Es ist, meiner Erfahrung nach, nicht immer einfach in dieser Welt eine Frau zu sein oder ein Mann oder ein Mensch. Jeder von uns steht unter dem Druck gesellschaftlicher Erwartungen. Unser Selbstbewusstsein, die Wege, die wir einschlagen, mit welchen Entscheidungen wir uns wohl fühlen, was wir und zutrauen- wird beeinflusst von unsichtbaren „Dos und Don´ts“, die wir von Geburt an eingetrichtert bekommen. Es ist fast unmöglich einfach nur Kind zu sein. Stattdessen sind wir Mädchen und Jungen. Wir dürfen miteinander spielen, interagieren, aber die Grenzen bleiben klar abgesteckt: Rosa oder blau, weben oder klettern, tanzen oder Fußball spielen, Puppen oder Autos. Immer wieder ein „oder“, immer wieder eine Grenze.

Natürlich stößt nicht jeder von uns andauernd auf diese unsichtbaren Grenzen. Aber irgendwo beeinflussen sie uns doch. Meiner Erfahrung nach, versuchen die meisten von uns bewusst oder unbewusst einen Platz zwischen diesen Rollen zu finden, indem man sie akzeptiert und sich arrangiert oder eben gerade nicht.

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